Wann beginnt man zu sagen: „Emotionen sind auch Fakten“?

Inspirationen (1)

In loser Reihenfolge wollen wir hier unsere Gedanken in kleinen Blogs zu Themen zur Verfügung stellen, die sich mit Wandel in Organisationen beschäftigen und inspiriert sind von Begegnungen, Beobachtungen, Entdeckungen, Reflexionen auch außerhalb des beruflichen Kontextes.

In einer interessanten Dokumentation der ARD in 2022 zum 50-jährigen Bestehen der Organisation Greenpeace nimmt der Protest gegen die geplante Entsorgung der Ölplattform „Brent Spar“ um das Jahr 1995 einen prominenten Platz ein. Greenpeace konnte hier einen seiner größten Erfolge verbuchen, nicht zuletzt, weil es gelungen war, eine globale Öffentlichkeit zu mobilisieren.

Was wir von Shell´s Umgang mit der Brent Spar lernen können oder:

Wann beginnt man zu sagen: „Emotionen sind auch Fakten“?

Diese Frage hat sich der ehemalige Vorstand (von 1994-98) von Shell UK, Heinz C. Rothermund einige Jahre nach dem „showdown“ mit Greenpeace gestellt, obwohl oder weil er davon überzeugt war, dass alle rationalen und rechtlichen Fakten dafür sprachen, die Versenkung der Ölplattform „Brent Spar“ in der Nordsee für die angemessenste Entsorgungslösung zu halten.

Rothermund kommt im Rückblick zu dem Schluss: „Wenn ich gutes Management machen will muss ich alle Fakten berücksichtigen“. Dazu gehören auch Emotionen.

Man muss nicht unbedingt bis zu dem Zeitpunkt warten, an dem eine Ölplattform zu entsorgen ist, um zu dieser Sichtweise zu kommen. Aber für Rothermund ist rund dreißig Jahre nach einem medial begleiteten Kampf um die Durchsetzbarkeit „vernünftiger“ Entscheidungen klar, dass es eine Mischung aus Arroganz und Naivität war, die zu einer Konfrontation führte, bei der Shell nicht sehr gut aussah.

Rothermund räumt Emotionen den Status eines ernst zu nehmenden und gleichberechtigten Faktors ein – neben denen, die wir üblicherweise mit Management assoziieren: wirtschaftlichen, technologischen, rechtlichen…. Er spricht nicht von „Irrationalismus“, was man hätte vermuten können angesichts der aufgeheizten Stimmung in der interessierten Öffentlichkeit, die das Ringen von Greenpeace und Shell mit großem Interesse verfolgte. Es ging um mehr als die Frage, ob das Versenken einer Ölplattform zu nicht akzeptablen Umweltverschmutzungen führen würde. Es ging, so denke ich, auch und vor allem darum, ob einflussreiche und mächtige Konzerne Entscheidungen treffen dürfen, deren (mögliche unabsehbaren) Folgen eine Gemeinschaft zu tragen hätte, die sich nicht wahrgenommen fühlte.

Rothermunds Nachbetrachtungen verbinde ich mit der Frage: Wie berücksichtigen wir Emotionen als Fakten in Veränderungsprozessen und bei der Suche nach Akzeptanz für Wandel?

Werden sie nicht häufig als in Kauf zu nehmendes Beiwerk (bzw. als erwartbare Widerständigkeit) gesehen, dem mit einer „richtigen“ Kommunikation bzw. (internen) Öffentlichkeitsarbeit zu begegnen ist? Werden sie nicht doch oft als „irrationale Ängste“ beschrieben, denen man versucht, mit rationaler Erklärung das Widerständige zu nehmen oder die mit einem positiven Reframing manipuliert werden?

Ich denke, bei Veränderungsprozessen sollten wir darauf achten, dass es möglichst früh und durchgängig einen gesicherten Raum gibt, in dem Emotionen und Empfindungen zur Sprache gebracht und für alle Beteiligten und Betroffenen erkennbar in die Prozesse der Entscheidungsfindung einbezogen werden. Denn auch wenn wir uns wünschen, dass die Akteure in einer Organisation das betrieblich Notwendige und Sinnvolle von ihren persönlichen Vorlieben, Interessen, Meinungen und Gefühlen trennen, dürfen wir uns sicher sein, dass sich die (funktionale) Rolle in der Organisation immer mit der Persönlichkeit (und ihren Prägungen und Affektlagen) vermischt. Alle Veränderungen, die signifikante Auswirkungen auf die Rollenausübung haben (sei es durch veränderte Prozesse, sei es durch Verschiebungen von Verantwortlichkeiten und Entscheidungsmacht) berühren eben nicht nur die organisationale Seite (incl. „Job description“) sondern stets auch den subjektiven Teil: die (unbewussten) Motivlagen, Bedürfnisse, Selbstbilder und Identitäten, also alles das, was sich vielleicht unter dem Begriff „Ego“ zusammenfassen lässt[1].

Wandel erfordert aus meiner Sicht eine Welt, in der die Gestaltung von Entscheidungsprozessen auf Basis rationaler und evidenzbasierter Fakten verbunden wird mit einem kontinuierlichen Dialog, in dem das Persönliche und damit auch die Verunsicherung, der Zweifel, das subjektive Empfinden zum Ausdruck gebracht werden dürfen und können. Wenn es gelingt, Emotionen in einem geschützten und von gegenseitigem Vertrauen geprägten Sprechraum zu verbalisieren, lassen sich die dahinter liegenden Bedürfnisse und Interessen gut und gleichwertig in Entscheidungen integrieren ohne als kontrafaktisch diskreditiert zu werden. Dies führt in der Regel allerdings nicht zum kaskadenhaft vorhersagbaren und linear steuerbaren „Roll out“ sondern zu einem eher iterativen Vorgehen mit kontinuierlichen Lernschleifen. In Pilotbereichen, in zeitlich überschaubaren Teilschritten werden Veränderungen umgesetzt und getestet: rational und emotional. In regelmäßig stattfindenden Sprechräumen (sinngemäß „Retrospektiven“) erfolgt der Dialog, der allen Beobachtungen und Erfahrungen Rechnung trägt. Dies erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass Veränderungen im System (Strukturen, Prozesse, Rollen, Technologien…) und persönliches Erleben und Empfinden in einen Zustand des Ausgleichs gebracht werden können und baut einer Dynamik vor, in der sich ein erfolgskritischer Teil von Betroffenen mental in die Schlauchboote setzt und verzweifelt oder/und trotzig gegen den „rationalen und gerichtsfesten“ Wasserwerfer des Managements ankämpft.

Von: Wolfgang Schichterich, 2023

[1] In Organisationskonzepten wie z.B. Holacracy ist von „role“ und „soul“ die Rede. Passt vielleicht sogar besser.

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